Hoffnung und Niedergang

Unter der Treppe sitzt ein Mensch. Er sitzt da, hält die Hände über den Kopf und zittert. Er sitzt jetzt seit eine Dreiviertelstunde dort und hofft, dass ihn niemand entdeckt. Er hat Angst, Angst vor dem Ende dessen, was vor wenigen Wochen begonnen hat. Es war wie der Beginn eines zweiten Lebens. Wobei ihm durch den Sinn geht, dass es sein erstes Leben ist, was gerade einmal 42 Tage alt ist und vermutlich gerade zerstört wird. Denn das davor, das kann man wahrlich kaum ?Leben? nennen. Es war nicht mehr als die nackte Existenz. Und so wie ihm war es vielen anderen auch gegangen, in den Jahrzehnten vor diesem denkwürdigen Tag. Das sind die Gedanken des dunkelhaarigen Mannes, der sich in die dunkelste Ecke unter der Treppe drückt, um nicht entdeckt zu werden. Über sich hört er schwere Stiefel entlanglaufen. Mit schnellen Schritten eilen Männer die Treppe hinauf und hinab. Ab und zu fallen Schüsse, explodieren Granaten. Befehle werden gebrüllt, er hört Schreie.
Der Mann trägt eine verstaubte blaue Hose mit einem Loch am linken Knie und ein graues Hemd, dessen Kragen zerrissen ist. Seine nackten Füße stecken in alten abgetragenen Lederschuhen, sein halblanges Haar hängt ihm strähnig vom Kopf. Ansonsten hat er nichts bei sich, seine Sachen hat er auf dem großen Platz vor der Treppe fallen gelassen, als er geflüchtet ist. Und jetzt sitzt er hier. Fern von den Menschen, die er liebt. Sie sind zwar nur wenige Kilometer entfernt, aber im Moment könnte ein ganzer Ozean zwischen ihnen liegen, es würde keinen Unterschied machen. Ob sie noch leben? Er weiß es nicht, und er wagt nicht, darüber nachzudenken. Er muss jetzt mit seiner Situation fertig werden. Er lugt vorsichtig um die Ecke und sieht, dass sich draußen vor dem großen Gebäude nichts verändert hat.
 
Vor wenigen Stunden sind die Panzer aus dem Kasernen gerollt, jetzt stehen sie mitten in der Stadt, vor allen wichtigen Gebäuden. Ihr Weg ist von blutigen Leichen gepflastert. Mutig haben sich einfache Menschen, die noch vor wenigen Wochen keine Perspektive hatten, unbewaffnet den Militärs in den Weg gestellt, als diese auf die Regierungsgebäude und die Medienzentren losstürmten. Die Menschen dachten offenbar, dass die Soldaten nicht auf ihre eigenen Landsleute schießen würden. Doch genau das ist passiert, und so fließen an wichtigen Kreuzungen jetzt Lachen von Blut in die Kanalisation. Die Panzer und die Jeeps haben jetzt alle wichtigen Knotenpunkte der Hauptstadt besetzt, der Rundfunk ist bereits in den Händen der Militärs, vermutlich wird bereits in wenigen Minuten eine Erklärung über den Äther gehen. Auch die Gebäude von Regierung und Parlament sind mittlerweile von Soldaten besetzt, nur in manchen Vororten konnte die Armee bisher die Kontrolle nicht vollständig erringen.
 
Militärputsch - das wird morgen in den Zeitungen der Welt stehen. Militärputsch in einem kleinen lateinamerikanischen Land. Während er das denkt, sinkt der Kopf des Mannes langsam an die Wand hinter ihm. Ja, die Zeitungen in den Zentren der Erde würden darüber einen kurzen Bericht schreiben, dann würde das normale Geschehen seinen Lauf nehmen. Schon immer war sein Heimatland nicht mehr gewesen als der letzte uninteressante Winkel der Welt. Interessant war es nur, weil die Arbeitskräfte hier billig waren, Arbeitskräfte wie er.
Als Kind einer armen Bauernfamilie auf die Welt gekommen, war er bereits mit 10 Jahren im so genannten Leben angekommen. In dem Alter musste er auf dem Feld mithelfen, jede Hand wurde gebraucht. Doch es hat nichts geholfen, als er 12 Jahre alt war, mussten seine Eltern ihr Land verkaufen, um ihre Schulden zu bezahlen. Schulden, die sie machen mussten, um am Leben zu bleiben. Der Großbauer hatte nach und nach sein Land erweitert, mittlerweile gehört ihm der halbe Bezirk.
Mit seinen Eltern war er in die Stadt gezogen. Sie hofften, dort ein Auskommen zu finden. Sie fanden eines, doch die Arbeit reichte gerade aus, um nicht zu verhungern. Bereits mit 13 Jahren wusste er, wie man klaut und stiehlt, mit 14 Jahren wurde er zum ersten Mal von der Polizei geschnappt und verprügelt, mit 16 Jahren war seine Diebeskarriere zu Ende. Sie hatten ihn eingesperrt, ein halbes Jahr lang, danach schickten sie ihn arbeiten. Eine neue Textilfabrik hatte am Stadtrand aufgemacht. Dort schuftete er 10 Stunden am Tag, um genug zu Essen zu haben.
 
Die wenigen Menschen, die das Radio einschalten, hören eine Ansprache des Oberkommandierenden des Heeres. Er sagt, dass die Regierung versucht habe, sich mit einem Teil der Staatsfinanzen aus dem Staub zu machen. Er sagt, dass es Aufstände von Anarchisten gegeben habe. Er sagt, dass eine ausländische Macht versucht habe, das Land zu destabilisieren. Und er sagt, dass nun das Militär die Lage unter Kontrolle habe, dass niemand sich sorgen machen müsse und dass die alte Ordnung wiederhergestellt werde.
 
Unter der Treppe gibt es kein Radio. Doch die Ansprache dringt auch aus den Lautsprechern des Ministeriums, zu dem die Treppe führt. Dem Mann ist klar, was mit der alten Ordnung gemeint ist. Er erinnert sich noch genau an den Tag, an dem diese alte Ordnung beendet wurde. Vor 42 Tagen hatte die große Volksbewegung einen grandiosen Sieg davongetragen. Die Volksbewegung der sozialen Kräfte, der Ausgebeuteten, der Geknechteten. Die Bewegung all derer, für die in der Gesellschaft kein Platz vorgesehen war, all derer, die nicht mehr als Menschen zählten sondern als Material. Bei den Wahlen wurde die alte Ordnung, von der der General soeben sprach, hinweggefegt. Und er war ein Teil dieser Bewegung. Es war eine seltsame Bewegung. Sie hatte keinen Anführer, sie lebte von der Masse der Menschen, von der Idee einer gerechten Gesellschaft, sie war einfach so entstanden, während die Arbeiterführer und wie sie sich nannten, mit den Bossen am Lunchtisch saßen. Bei den Parlamentswahlen hatte sie einen überwältigenden Sieg errungen. Die ersten Maßnahmen waren für die verarmten Massen wie eine Befreiung. Landlose Bauern bekamen ihr Land zurück, die Fabriken wurden den Arbeitern gegeben, die Straßen gehörten auf einmal wieder den Menschen. Nur das Militär harrte in seinen Kasernen und wurde bewusst übersehen. Nach drei Wochen gab es bereits die ersten Proteste fremder Regierungen, dass das Land gegen diverse Wirtschaftsverträge verstoße. Der internationale Druck wurde größer, doch die neue Politik wurde fortgesetzt.
 
All das geht dem Mann im Zeitraffer durch den Kopf. Langsam wird er müde. Der Tag neigt sich dem Ende zu, er sitzt nun schon viel zu lange zusammengekauert auf dem staubigen Boden unter der Treppe, wagt kaum, sich zu bewegen, um sich nicht zu verraten.
 
Es war seit wenigen Tagen absehbar, dass das Militär die neue Ordnung nicht lange dulden würde. Doch dass es so schnell reagieren würde, das ahnte noch vorgestern niemand. Und jetzt ist es zu spät. Mit Waffengewalt haben sie die Menschen, die sich seit Jahrzehnten an den Menschen im Land bereichert haben, die Macht wiedererlangt, um sich weiter zu bereichern.
 
Seine Augen fallen immer wieder zu. Er darf nicht einschlafen, das wäre fatal. Auf einmal wieder Schreie. Er sieht einen Panzer auf die Treppe zukommen. Auf einmal dreht sich der Turm des Panzers. Er dreht und dreht sich, bis die Mündung genau auf die Treppe zeigt. Das letzte, was der Mann sieht, ist ein kurzer Lichtblitz, dann senkt sich Dunkelheit über ihn. Über ihn und Millionen andere Menschen in einem kleinen lateinamerikanischen Land, das 7 Wochen der Hoffnung erleben durfte.